Rezension Bertus Mulder Sophie Louisa Kwaak und das Kapital der Unternehmerfamilie Weil

Wallstein Verlag, Goettingen 2021

Motto Fietje Kwaak: “Mutig voran, auch wenn das Leben Ihnen nichts als grosse Sorgen bietet.”

Der Autor Bertus Mulder, 1949 geboren und Dozent fuer Sozialgeschichte in Holland, hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben, das jetzt auch in deutscher Sprache vorliegt. Die zeitgeschichtliche Bedeutung dieser Biographie kommt im Untertitel des Buches zum Ausdruck: Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte der Frankfurter Schule.

Es handelt sich um die Biographie einer Frau, die aus prekaeren Verhaeltnissen kommt, zuerst eine Lehrerinnenausbildung beginnt, diese aber aufgeben muss. Sie macht dann eine Ausbildung zur Stenotypistin und eignet sich gute Fremdsprachenkenntnissen in Deutsch, Englisch und Franzoesisch an. Sie arbeitet in diversen Firmen in Den Haag und Rotterdam, um sich selbst und ihre Mutter zu ernaehren, die von ihr abhaengig ist und um die sie sich über Jahrzehnte kümmert.

Sophie Louisa Kwaak, genannt Fietje, trifft 1933 auf Arthur Erich Nadel, der das in Deutschland und Holland investierte Vermoegen der juedischen Familie Weil verwaltet. Hermann Weil hatte durch Getreidehandel ein Vermoegen gemacht, aus dem 1923 ueber die Hermann – Weil – Stiftung das Institut fuer Sozialforschung an der Universitaet Frankfurt hervorgegangen war.

Arthur Erich Nadel (Vgl. S. 80 – 85) stammte aus einer juedischen Kaufmannsfamilie und trat in die Firma Weil Hermanos (Sitz Buenos Aires) mit dem Auftrag ein, das Kapital des Weil Imperiums vor den Nazis zu sichern. Eigens zu diesem Zweck wurde eine Firma namens Robema gegruendet, ueber die bis zum 10. Mai 1940 der groessere Teil des Kapitals jenseits des Ozeans in Sicherheit gebracht werden konnte. Ein Rumpfbetrag von 1,7 Millionen Gulden (heute fast 15 Millionen Euro) verblieb in den Depots verschiedener Banken in Holland.

Nadel stellte Fietje Kwaak 1933 als Sekretaerin ein und war schnell von ihrer Person überzeugt und von ihren Faehigkeiten beeindruckt. Er vertraute ihr voll und machte sie zu seiner Stellvertreterin in Holland, als er selbst im Maerz 1939 in die USA uebersiedelte.

Nadel schaetze Fietje sehr, vertraute ihrer Lernfähigkeit und ihrer persönlichen Integrität wie auch ihren sozialen Fähigkeiten. Fachlich, besonders im Bereich Buchhaltung, musste sie zwar sehr viel lernen, doch fuer Nadel waren ihr Urteilsvermögen und ihre Menschenkenntnis sowie ihre Intuition besonders wichtig. Er konnte sich auf ihr Pflichtbewusstsein und ihr Durchhaltevermögen verlassen.

Fietje Kwaak wurde folglich ausgesucht, um Robema im Falle einer deutschen Besetzung durch den Krieg zu bringen. Eher klein und unscheinbar hatte sie einen lupenreinen arischen Stammbaum. Durch ihre schwierige Kindheit hatte sie einen untrüglichen Sinn für Proportionen entwickelt: “Ich schaue mir Äußerlichkeiten schnell an und spüre meist sofort, wo etwas nicht stimmt”, schreibt sie über sich selbst. In Gesprächen konnte sie sehr ausgleichend sein. Nadel versuchte immer wieder, ihr Selbstvertrauen zu stärken, weil sie sich selbst unterschätze.

Nach dem Ende des Krieges wird sie Chefsekretärin bei Price Waterhouse & Co in Den Haag, bleibt aber der Firma Robema verbunden, als diese 1948 in Liquidation geht. Durch Differenzen und Streit innerhalb der Weil Familie sollte diese sich aber noch Jahrzehnte hinziehen und war 1964 immer noch nicht abgeschlossen.

Besonders tiefe Einblicke bezogen auf die “gelehrten Frankfurter Freunde” bietet das achte Kapitel “Die Abwicklung der Robema” (S. 203 ff.)

Einerseits steht Fietje noch in Verbindung mit der Millionaerswelt der Robema und arbeitet mehr oder weniger ohne jede Bezahlung, zahlt sogar aus eigener Tasche das Porto fuer die Briefe an Nadel in die USA und fordert nicht einmal die ihr vertraglich zustehende Miete ein. Sie geht davon aus, das Kapital sei vor der Abwicklung nicht verfuegbar. Die Robema ist gewissermassen zu ihrem “Kind”, ihrem Baby geworden.

Persoenlich kannte sie durch ihre Arbeit einige Mitglieder der Familie Weil sowie die beiden Protagonisten der Frankfurter Schule, Friedrich Pollock und Max Horkheimer, die “gelehrten Freunde”. Im vertrauten Briefwechsel mit Nadel umreisst sie unbefangen ihre eigenen Eindruecke. Nadel selbst hatte Horkheimer einmal als “das eingebildetste Geschoepf” (s. 208) bezeichnet, dem er jemals begegnet war, ein Mann, der Angst verbreiten und Glueck zerstoeren konnte (S. 209), und Fietje hat ein klares Bild des “King” vor Augen, so nennt sie ihn in einem ihrer Briefe an Nagel: Er habe sie an ein Reptil erinnert, und sie bringt ihre Verwunderung zum Ausdruck, dass ein Mann wie Pollock, der sie bei seinen Besuchen in Holland sehr beeindruckt hat, unter dessen Einfluss geraten konnte. (S. 209) Nadel wiederum hielt Felix Weil, reich wie er war, fuer einen Pfennigfuchser, wenn es um Steuerforderungen ging, und er selbst zahlte aus eigener Tasche 550 Gulden als Vorschuss, als der geforderte Betrag in den Buechern der Robema nicht verfuegbar war. Nadel vertraute ihr an, die “gelehrten Freunde wuerden auf dem fremden Geld sitzen wie ein “Oktopus mit seinen Tentakeln” und es nicht mehr hergeben, auch wuerden sie das Wort “zurueckzahlen” wohl nicht kennen! (S. 209)

Dr. Pollock kommt dabei sehr viel besser weg als der eingebildete “King”, Nadel haelt ihn fuer “zuvorkommend und anstaendig”; durch seine Heirat mit Carlota Weil sei er finanziell abgesichert und deutlich unabhaengiger von Horkheimer geworden. (S. 210) Pollock habe ihm (Nadel) die Auslagen sofort erstattet und habe ihm vorgeschlagen, er solle sich in Zukunft direkt mit ihm in Verbindung setzen, statt Felix Weil einzuschalten.

Zudem waren die “Frankfurter Freunde” der Ansicht, die Abwicklung der Robema koennte beschleunigt werden. Sie schlugen deshalb mehrere Vorgehen vor, die sich jedoch voellig in Luft aufloesten, so fern waren sie von jeder moeglichen Realisierung.

Als Fietje von Pollock bei dessen Besuch in Amsterdam eingeladen wird teilzunehmen, ist sie stark beeindruckt von der Selbstsicherheit des gelehrten Mannes, der sie ueberraschend ins Rijksmuseum in Amsterdam einlaedt und anschliessend eine Kutsche mit Pferd mietet, um mit ihr zusammen eine herrliche Grachtenfahrt zu unternehmen. Sie fuehlt sich geehrt und ist von ihm sehr beeindruckt. Danach nimmt sie auch noch an einem Abendessen mit dem Anwalt teil und blickt in einem Brief an eine Schulfreundin auf dieses “seltene Abenteuer” zurueck. (S. 211 / 212).

Bemerkenswert dabei der Satz an eine Freundin: Sie fand Pollock immer sehr nett, allerdings sei “sein Verhalten eine gewisse Hoeflichkeit, auf die …ich nicht allzu viel geben darf.” (S. 212)

Der Unterschied zwischen ihrer Welt und der Pollocks wird besonders deutlich, als es um die Begleichung von Schulden geht. Aus einem Brief Pollocks an Nadel geht hervor, dass ihm erst bei seinem Besuch in Amsterdam klar geworden sei, in welchem Umfang Fietje Kwaak der Firma Robema Geld privat vorgeschossen habe (S. 228). Offenbar hatte er ihre Bemerkungen und “ausfuehrlichen Saldenlisten” nicht verstanden oder ueberhoert, weil “die kleinen, praktischen Dinge des Alltags … unwichtig” fuer ihn seien. Dass sie aber “… ein bisschen zu muede sei, um alles zu kaempfen” (S. 228) und sich nicht ernst genommen fuehlt, bringt sie sehr deutlich Nadel gegenueber zum Ausdruck:
“Wenn Dr. Pollock ein gewisses Gespuer fuer Verhaeltnismaessigkeit gehabt haette, dann haette er vor zwei Jahren, nach seinem Besuch in Amsterdam, gleich dafuer gesorgt, dass es nicht mehr noetig sein wuerde, dass ein unbedeutendes Persoenchen Unkosten, die mit den Privatunternehmen von “Kapitalkraeftigen” verbunden sind, vorschiessen muss.” (S. 229)

Einer starken und mutigen sowie aussergewoehnlichen Frau setzt der Autor hier ein Denkmal und fasst in seinem Nachwort “Dank und Quellen” zusammen, wie diese Biographie entstehen konnte: (Vgl. S. 273)

“Ein Buch wie dieses haette im heutigen digitalen Zeitalter nicht geschrieben werden koennen…Selbst eine aktive Briefschreiberin unterhielt Fietje Kwaak eine rege Korrespondenz mit ihrem Chef Arthur Erich Nadel in den USA sowie ihren Freundinnen unter anderem aus dem Lehrerseminar.” (Vgl. S.273)

Bertus Mulder arbeitet das umfangreiche Archiv durch, es besteht aus 6 Mappen und Ordnern, und rekonstruiert die Lebensgeschichte der Frau, deren Schicksal ueber die Robema eng verknuepft ist mit den Nachkommen Hermann Weils. Auf diese Weise erstellt er ein einzigartiges Dokument der Zeitgeschichte. Sein Buch habe ich sehr gern gelesen und finde die Auswahl der zitierten Originalbriefe ausgesprochen gelungen.

Der Autor hat auf seiner Webseite in hollaendischer und englischer Sprache eine Storyline dieser Biographie mit inhaltlichen Zusammenfassungen publik gemacht.

http://bertusmulder.nl/voorlopige-titel-fietje-kwaak-en-het-weil-kapitaal/

Peter Bloecker, StD i.R. am 06. Oktober 2021